Retrospektive: Über Krieg im Team sprechen

Kein Business as usual!

An ein normales Arbeiten ist nur schwer zu denken, während anderthalb Flugstunden entfernt eine Invasion stattfindet und die Welt gebannt auf einen Krieg mitten in Europa starrt. Jede:r geht anders mit dieser Erfahrung um. Manchen hilft die Routine auf der Arbeit, um sich abzulenken. Andere verharren in Todesangst um Angehörige und funktionieren nur noch.

So eine Ausnahmesituation geht auch an Teams nicht spurlos vorbei. Nehmt Euch die Zeit, um das aktuelle Weltgeschehen gemeinsam im Team zu besprechen.

Den Krieg nicht ignorieren

Ihr seid Menschen und jede:r bringt seine persönlichen Ansichten, Sorgen und Ängste mit auf die Arbeit. Wenn Du Dich persönlich in der Lage dazu siehst, sprich mit Deinem Team und frage sie, wie es ihnen mit der aktuellen Entwicklung geht. Erhältst Du die Rückmeldung, dass das nicht gewünscht ist, ist das okay!

Wenn in Deinem Team Menschen mit persönlichen Bezügen zur Ukraine sind, sprich erst einmal unter vier Augen mit ihnen. Frage sie, welche Wünsche sie haben, wie mit dem Thema im Team umgegangen werden sollte. Höre ihnen zu und halte Dich mit gut gemeinten Ratschlägen zurück. Du bist nicht in ihrer Situation und kannst nicht in ihr innerstes hineinsehen. Ratschläge sind auch Schläge!

Persönliche Betroffenheit teilen

Teile Deine Gedanken, Sorgen und Ängste zum Krieg. Wenn Du selbst Angehörige oder Freunde in den betroffenen Ländern hast, teile das mit Deinem Team. Diese Offenheit kann helfen, einen vertrauensvollen Rahmen für gegenseitige Anteilnahme und Austausch zu schaffen.

Bitte andere Teammitglieder, wenn sie möchten, ihre Gedanken ebenfalls zu teilen. Wer hat persönliche Kontakte in die Ukraine oder kennt andere Beispiele von Menschen, die Krieg und Gewalt erlebt haben? Auch vor dem Ukrainekrieg gab es viele schlimme Konflikte, die für uns medial lediglich weniger präsent waren.

Ausgrenzung verhindern

Diesen Krieg haben in erster Konsequenz Putin und seine Militäradministration zu verantworten. Sollten in Deinem Team Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft oder russischen Wurzeln sein, trifft diese keine Schuld. Es wäre falsch, Menschen mit russischen Wurzeln jetzt in Sippenhaftung zu nehmen. Diesen Menschen geht es momentan auch nicht gut und sie fühlen sich min. so hilflos wie Du. Gehe auf sie zu und biete ihnen Einzelgespräche an. Frage sie, wie sie sich fühlen und was sie jetzt brauchen.

Propaganda nicht tolerieren

Ideologische Aussagen oder Propaganda musst Du nicht tolerieren und solltest da ein klares Stoppschild aufstellen. Im Internet findet ein sog. Infokrieg um die Deutungshoheit des Konfliktes statt. Es werden viele unwahre oder ideologisch eingetrübte Informationen und teilw. schwer zu durchschauende Falschmeldungen verbreitet. Schließe Dich nicht übereilig einer Aussage an, auch wenn es schwerfällt neutral zu bleiben. (Tipp: Kapitel 14.4 Kritische Reflexion massenmedialer Kommunikation)

Solltest Du den Eindruck haben, dass in Deinem Team ideologisch geprägte Diskussionen geführt werden oder ethisch geprägte Konflikte drohen, ziehe ggf. zeitnah einen externen Mediator dazu. Du bist Teil des Teams und damit nicht neutral (oder erfahren) genug, um den Konflikt zu moderieren.

Retrospektive zum Krieg durchführen

Du kannst mit Deinem Team eine Retrospektive durchführen, um explizit die Sorgen und Ängste aufzugreifen und einen gemeinsamen Umgang damit zu finden. Leider wird der Konflikt zunehmen und wir werden schon bald noch mehr Kriegsrhetorik hören, weitaus schlimmere Bilder sehen und viele unschöne Nachrichten von Betroffenen erhalten. Nutzt die Zeit, um Euch als Team gegenseitig zu stärken.

1. Checkin (10 Min.)

Bitte alle Teilnehmer:innen, kurz inne zu halten und im Anschluss auf einem Postit ihre aktuelle Gefühlslage in Form einer Grafik zu visualisieren. Bitte im Anschluss alle ihr Postit zu zeigen und, wenn sie mögen, kurz etwas zur Zeichnung zu sagen. Es ist okay, wenn jemand nichts gezeichnet hat oder es zeigen möchte.

2. Geist aus der Flasche (20. Min.)

Du hast einen Geist aus seiner Flasche befreit. Dafür erhält jede:r drei Wünsche. Bitte Deine Teammitglieder, drei Wünsche mit folgendem Schwerpunkt zu formulieren:

  • einen Wunsch für dich selbst
  • einen Wunsch für dein Team
  • einen Wunsch für alle Menschen auf der Welt

Lass jedes Teammitglied seine/ihre Wünsche präsentieren (unbegrenzte Wünsche zu erhalten gilt natürlich nicht). Z.B. in dem sie auf einer Wand oder einem virtuellen Whiteboard aufgeschrieben werden. Ähnliche Wünsche clustert Ihr.

Sprecht im Anschluss darüber im Team. Gibt es Wünsche, die erfüllbar sind, notiert Eure konkreten Ideen und mögliche To-do.

3. Open Coffee (60 Min.)

Bitte alle Teammitglieder, die das möchten, ein Thema aufzuschreiben, das sie gerade in Bezug auf den Krieg in der Ukraine besonders bewegt und über das sie gern mit dem Team sprechen möchten. Das können auch aktuelle Nachrichten oder private Themen etc. sein. Gib allen 5 Minuten Zeit, um über die Frage nachzudenken. Wer möchte, schreibt kurze Stichpunkte auf ein Postit.

Anders als sonst führt Ihr kein Voting oder eine Themensammlung durch. Jedes Thema für die jeweilige Person wichtig. Frage in die Runde, wer sein/ihr Thema vorstellen möchte. Im Anschluss kannst Du die anderen dazu einladen, ihre Gedanken zum Thema zu teilen. Wenn niemand etwas sagen möchte, ist das okay!

Wenn konkrete Ängste geäußert werden, frage nach, wie es diesem Menschen damit geht und ob es etwas gibt, was helfen könnte. Teile auch Deine eigenen Emotionen dabei mit und sage, was es mit Dir macht. Lade die anderen Teammitglieder ein, ihre Gedanken zu teilen.

Für konkrete Entscheidungen oder zu erledigende Aufgaben kann es helfen, parallel eine sog. “Wer macht Was bis Wann”-Liste zu führen. Lege dafür eine Tabelle mit drei Spalten auf einem Flipchart oder virtuellen Whiteboard an. Die erste Spalte wird mit Wer überschrieben, die zweite mit Was und die dritte mit Wann. Sammelt konkrete Vereinbarungen in dieser Tabelle und schreibt auf, wer sich worum bis wann (konkretes Datum) kümmert. Konkrete Ideen und Action Points zu notieren, kann helfen, um ein Gefühl von Kontrolle in einer emotional belastenden Situation zu gewinnen.

4. Wand der Wünsche (10 Min.)

Bitte Deine Teammitglieder, wenn sie möchten, einen Wunsch an das Team zu formulieren und diesen im Anschluss an eine Tafel (oder Euer virtuelles Whiteboard) zu schreiben.

Beispiele könnten sein:

  • Ich wünsche mir, dass wir aufeinander aufpassen
  • Wenn jemand spontan jemanden zum Reden braucht, bin ich da
  • Bitte lasst uns diese Offenheit beibehalten
  • Ich möchte gern etwas für die Menschen spenden, wer möchte mitmachen

5. Checkout (5 Min.)

Bitte jedes Teammitglied um ein kurzes abschließendes Statement, wie es ihnen gerade geht und worüber sie vermutlich noch weiter nachdenken werden.

Sollten in Deinem Team akute Probleme zu diesem Thema existieren und sollten weder Du noch jemand aus Deinem Umfeld in der Lage sein, eine Retrospektive durchzuführen, nehmt bitte Kontakt zu uns auf. Wir werden Euch im Rahmen unserer zeitlichen Möglichkeiten (kostenlos & unbürokratisch) bei der Durchführung einer Team-Retrospektive unterstützen. Du erreichst uns über contact@proagile.de

Wenn Du Menschen kennst, für die diese Informationen relevant sind, kannst Du den Artikel gern an sie weiterleiten.

Disclaimer: Dieser Text wurde angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in der Ukraine verfasst. Er soll als Inspirationsquelle dienen, um im Arbeitskontext über die schlimmen Ereignisse, die der Krieg in Europa anrichtet, zu sprechen. Bitte respektiert die Menschen, die darüber nicht sprechen möchten.

Bitte passt auch auf Euch selbst auf. Schaltet die Nachrichten aus, wenn Ihr merkt, dass Ihr emotional nicht mehr gut damit umgehen könnt und schützt Eure Psyche vor zu vielen negativen Impressionen. Wenn Ihr merkt, dass Euch die Angst überwältigt und sich anhaltende Angstzustände einstellen, sprecht bitte Menschen in Eurem privaten Umfeld an und wendet Euch ggf. direkt an den ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unter der Rufnummer 116117 und bittet um psychologische Beratungsangebote. Im akuten Fall steht Euch die telefonische Seelsorge zur Verfügung, die für eine anonyme, kostenlose Beratung telefonisch zu jeder Tages- und Nachtzeit unter 0800 1110111 oder 0800 1110222  erreichbar ist.